Tabu des Blickes


über das aktionistische Künstlerduo Ramacher & Einfalt

Ein blassblutrot aufflackernder Himmel, düster und bewegt bewölkt; auf einer verwitternden Steintreppe sitzen zwei Männer, der eine bekleidet nur mit einer kurzen und der andere mit einer längeren Lederhose, dazu Turnschuhe und eine Kopfbedeckung; die Kamera umgehängt, versehen mit einem Wanderstab und einer Bogensäge. Eine Inszenierung des Als-ob? Die Person links wird von J. Ch. Einfalt, die Person rechts von Jürgen Ramacher dargestellt. Es zeugt schon von einer gewissen Chuzpe, dass sich zwei – nicht mehr ganz unbekannte, aber noch nicht weithin bekannte – Künstler in dieser offensiven Geste öffentlich vorstellen. Verwirrt wird der Betrachter aber vor allem auch durch die fast versteinerten, unsagbaren Mienen. Obwohl der eher rundlich abgepolsterte Bildhauer Jürgen Ramacher ein gewisses, wenn auch unsicheres Lächeln andeutet, bleibt J. Ch. Einfalt mimisch fast ausdruckslos. In dieser nackten Selbstpräsentation, ungeschützt den Blicken eines voyeuristischen Publikums ausgesetzt, aber liegt ein Punkt ihrer bildnerischen und räumlichen eingreifenden Provokation: Indem sich ein Maler und ein Bildhauer zusammentun, um neuartige Objekte zu schaffen, stellen sie sich in diesem Diarama zunächst einmal selbst dar. Das liegt begründet in der weit verzweigten Tradition des österreichischen Aktionismus. Hier gilt es ja seit den sechziger Jahren als opportun und auch als chic, nicht die Kunst, sondern den Künstler in den Mittelpunkt zu stellen.
Vielleicht hat das auch ein wenig mit der Entdeckung des Narzissmus durch die Psychoanalyse im Ambiente Wiens zu tun. Man weiß, wie die Eitelkeit und das Ego des Künstlers wichtige Mitspieler im kreativen Prozess sind und das eine ist vom anderen nicht mehr zu trennen. Was den österreichischen Aktionismus aber darüber hinaus noch bemerkenswert macht, bildet den Versuch, das Kreative und das Künstlerische sowohl im Prozess als auch im Ergebnis als etwas „Gewordenes“ , als etwas „Materiales“ und „Dingliches“ zu betrachten – etwas das nachhaltig an den psychischen und körperlichen Prozess der Entwicklungen des Künstlers gebunden ist. Und als solche elementare Hinweise
auf Kreativität und Körperlichkeit kann es vom Betrachter sinnlich angenommen und ästhetisch verwandelt werden.

Zeit wird räumlich

Indem sich zwei eigenständig arrivierte bildende Künstler zusammentun, entsteht nun nicht nur die Summierung von zwei Teilen, sondern es entsteht etwas Neues, es entsteht eine Gestalt. Diese bedeutet ja – wiederum psychologischen Theorien zufolge – mehr und anderes als die Summe ihrer Einzelteile. Sowohl die Art von Selbstpräsentation, d. h. Selbstvergegenwärtigung, dieser beiden Künstler als geoutete und geerdete Individuen, um nicht zu sagen als Personae, in ihrem Setting „Waiting for an Aeroplane“, überschreitet fast die Grenze der Wahrnehmbarkeit. Sie treten den Betrachter „sehr nahe“. In ihrer so distanzlosen und ungeschützten Unbekleidetheit, in ihrer Nacktheit, sowie in ihrer ungeschönten Körperlichkeit verletzen sie ein Tabu des Blickes. Indem sie es aber nicht nur auf eine unmittelbare, anheischende und menschelnde Art tun, sondern indem sie ihre ungeschützte Körperlichkeit gleichzeitig und subtil einhüllen in ein gekonntes Ambiente, (ein offener Raum, auflodernde Wolkenberge des Himmels, ein Bildobjekt  im Hintergrund, die Stufen der Treppe und die beiden  Gestalten mit ihren besagt undurchdringlichen Maskenspiel usw.), verleihen sie dem Ganzen einen Drive in eine andere Richtung, nämlich in die einer Objektkunst als Happening. Zeit wird somit räumlich.
Diese Geste wird weitergeführt in ihrem gemeinsamen Objekt „Heimat 1“ (Terrarium beschallt, 1996). In einem rechteckigen Behälter auf langen dünnen Füssen steht  in draufsichtiger Betrachtungshöhe eine Glasscheibe diagonal in einer grobkörnigen Sandmasse, worunter eine Lautquelle verborgen ist. Jeweils diagonal gegenüber der Glasplatte sind die beiden Künstler zu sehen, diesmal  in der Figur von je plastischen Gestalten: Man sieht den dünne und den dicken Künstler, wie sie mit erhobenen Händen die dunkelviolette Scheibe (ein Bergpanorama als Durchlichtdia ist dazwischen aufgezogen) betrachten. Vielleicht sehen sie sich dort hindurch oder rufen sich etwas zu. Was an diesem zunächst einmal plausiblen Objekt verstört, ist der Titel – obwohl „Heimat“ mittlerweile zu einer wohlfeilen Provokation oder zu einem allzu bekannten Fetisch geworden ist. Nach einer Zeit von mehr als fünfzig Jahren, in der dieses Wort zumindest in Mitteleuropa nicht ohne Schuldgefühle geäußert werden konnte, scheint es mittlerweile fast schon wieder modisch zu sein, sich damit zu brüsten und es als ein Versatzstück für gewolltes Aufsehen einzusetzen.
Neben solch vordergründiger Provokation wird man bei einem zweiten Blick auf dieses Objekt aber auch eigentümlich bewegt. Nicht nur, dass sich der Betrachter selbst um das Objekt herumbewegen kann, dass es sich hierbei also um eine Raumstruktur im weitesten Sinn des Wortes handelt – er wird zudem konfrontiert mit Spiegelungen und Changierungen von unterschiedlichen Farb- und Formeffekten. So zeigt sich dieses Objekt nicht nur als eine dreidimensionale Skulptur, sondern es erscheint vier-, oder sogar fünfdimensional, rechnet man noch die Kulisse der Laute mit hinzu. In einer Tradition von Edward und Nancy Kienholz handelt es sich hier um eine Art Environment im Kleinformat, also um einen Gegenstand, der in einem Raum seine eigene Ausbreitung schafft und damit – zeitlich den dreidimensionalen Raum überschreitet. Das ist das Besondere an dieser Installation von Ramacher & Einfalt, dass jeder der beiden Künstler mit seinem je eigenen ausgeprägten Können etwas bewerkstelligen kann, das eben mehr ist als eine bloße Summation einzelner Anteile.

Rituale

Ein solches Spiel wird bei dem Objekt ebenso deutlich, dass den Titel trägt „Gipfelsturm“. Zu bestaunen ist ein hochformatiges Bild einer detaillierten realistisch ausgemalten, schneebedeckten Hochgebirgslandschaft, wo in dem unteren Drittel eine Lichttafel, durchscheinend mit dem Wort „Gipfel“ angebracht ist. Außerdem sieht man vor dieser am unteren Rand jeweils links und rechts außen placiert wiederum die Kleinskulpturen beider Künstler in Selbstdarstellungen, so wie sie bereits aus dem Objekt „Heimat“ vertraut sind. Dieses Objekt allerdings ist auffallender und noch beeindruckender durch mindestens zwei Aspekte: Zum einen oszilliert das Bild und wechselt zwischen Vorder- und Hintergrund durch angedeutete Schatten; es ist doch nicht eindeutig , wo der angedeutete Raum des Hochgebirges aufhört und der künstlerisch anvisierte weitere umgebende Raum beginnt. Das Erstaunlichste und Irritierende daran ist allerdings das lapidare Wort „Gipfel“. Abgesehen einmal von den diesbezüglichen Assoziationen von Malereien der österreichischen Landschaft, der „österreichischen Heimat“, vor allem der Alpenpanoramen auch schweizerischer, italienischer und deutscher Provenienz in der Tradition des singulären Segantini, Hodler und anderer Maler um die Jahrhundertwende, bis zu den Kitschpostkarten mit alpenländischer Idylle und Klischees heute, birgt dieser Begriff des „Gipfel“ eine zudem vielleicht ungewollte Aktualität, indem er sich auf den Bereich des Politischen bezieht. Die gegenwärtige Politik Europas und der Welt ist gekennzeichnet durch Statik und Unbeweglichkeit in der Tradition des Kalten Krieges, in der sich trotz des Zusammenbruchs der Systeme eine Bewegung nicht abzeichnet. Dem aber wird mit immer neuen „Gipfeltreffen“ begegnet. Nun weiß mittlerweile jeder Zeitungsleser, Fernsehzuschauer und Radiohörer, dass solche Gipfeltreffen nur solange aktuell und wahrnehmungsfähig sind, solange sie dauern – und bis der nächste beginnt. Der Begriff des „Gipfels“ ist im Politischen also zu einem Ausdruck für ein erstarrtes Ritual ohne Aussage geronnen. In der hier assoziierten und vorgelegten Kunst erhält das Wort „Gipfel“ indes eine zusätzliche und zeichenhafte Bedeutung, die über das Klischee von alpinen Ganghofer-Idyllen  und von politischen Schauspielen weit hinausreicht. Es deutet hier nämlich eine Grenzziehung, Grenzüberschreitung sowie eine Durchschaubarkeit an. Zumal dieses Wort „Gipfel“ wiederum als Diarama konzipiert und man weniger diesen Begriff als einen visuellen Durchblick wahrnimmt. Dieser bezieht sich konnotativ eben nicht auf die Spitze eines angedeuteten Alpengipfels, sondern er bewegt sich bloß räumlich plakativ montiert, zeichenhaft, illuminiert und transluzid im unteren Drittel. Es ist ein bildnerisch objekthaft umgesetzter Effekt einer Möglichkeit eines dreidimensionalen Ensembles – sowohl wie auch der Verweis auf dessen Grenzen. Mehr kann man mit Objekten wohl kaum ausdrücken. Ist es also gerade nicht eines der auffallenden Markenzeichen dieser beiden Künstler, die zur Zeit die Szene der bildenden Kunst in Österreich nachhaltig mit aufmischen?

Im Zeitalter der rasanten multimedialen Expansionen stellt das außerdem noch einen wichtigen und nachhaltigen Beitrag dar, um das Multimediale von seitens und mit Hilfe der bildenden Kunst auszuleuchten – und zwar auszuleuchten in einer doppelten Bedeutung: die Grenzen aufzeigen, sie durchsichtig zu machen, und zugleich das Ende abzuzeichnen, wo die bildende Kunst heute das Terrain an die Multimedien abgeben muss. Diesen wichtigen Punkt der öffentlichen Diskussion im kulturellen Kontext haben sich die beiden Künstler nachhaltig hingegeben und bringen differenzierend vor Augen und ins Bewusstsein. Insofern verkörpern sie, formal und inhaltlich – aus den idyllischen Gefilden Niederösterreichs sich ursprünglich herleitend – und diese souverän überschreitend, einen wichtigen Zweig in der auffallend und ausstrahlend schillernden Szenerie der bildenden Kunst Österreichs.

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